LEBEN AUF
RHODOS
ORTHODOXE CHRISTEN BESSER VERSTEHEN
Eine kleine Anleitung von Pfarrerin Dr. Christine Friebe-Baron
Herausgegeben von der evangelischen Gemeinde deutscher Sprache auf Rhodos
Fast alle Mitglieder unserer Gemeinde leben in griechisch-orthodoxen Familien und begegnen der orthodoxen Kirche im Alltag
auf vielfältige Weise. Doch erweist es sich oft als gar nicht so einfach herauszufinden, was sich als Sinn hinter dem
Verhalten der Gläubigen verbirgt und was einzelne gottesdienstliche Handlungen
bedeuten. Die orthodoxe Frömmigkeit lebt ja davon, dass Kinder von klein auf in diese Bräuche und liturgischen Handlungen hineinwachsen. Was orthodoxen Christen
selbstverständlich erscheint, ist Christen aus westlichen Traditionen oft fremd und kaum nachvollziehbar. Doch vieles
lässt sich erklären, und gar nicht selten entwickelt sich Sympathie für die Weise, wie unsere "fremden Geschwister" den
christlichen Glauben leben.
Manchmal spüren westliche Christen auch eine gewissen Abwehr besonders im Verhalten einiger orthodoxer Geistlicher,
Mönche und Nonnen. Dann tut es gut, sich daran zu erinnern, dass die westliche Kirche im Verlauf der Jahrhunderte die
östliche tief verletzt hat, und dass alte Narben heute noch schmerzen können.
Da unsere Gemeinde weitgehend aus hier verheirateten Frauen besteht, ergibt sich natürlich auch die Frage, welche Stellung
Frauen in der orthodoxen Kirche haben – stellt sie sich doch zunächst einmal als reine Männerhierarchie dar.
So habe ich als Pfarrerin unserer Gemeinde versucht, drei Jahre lang in regelmäßigen Beiträgen für den Gemeindebrief
solche Fragen und Themen anzusprechen. Das Interesse daran war recht lebhaft, und es entstand aus der Gemeinde heraus
der Wunsch, diese Beiträge gesammelt einem größeren Leserkreis zugänglich zu machen.
Die Feier zum zehnjährigen Bestehen unseres Ökumenischen Begegnungszentrums in Rhodos schien mir ein passender
Anlass, diesen Wunsch zu erfüllen.
Ich widme diese kleine Arbeit meinem verstorbenen Doktorvater Professor Nikos Nissiotis, der in Athen und Genf gelehrt hat.
Rhodos, den 16. Mai 2003
Christine Friebe-Baron
Das Kreuzzeichen und der Kuss auf die Ikone
Sie haben es gewiss schon oft erlebt: Wenn orthodoxe Christen eine Kirche betreten, dann zünden sie zuerst eine Kerze an.
Diese Kerze sagt: Ich bin da in diesem heiligen Raum, ich mit all meinen Sehnsüchten und Lasten, mit meiner
Erdenschwere und meiner Hoffnung auf Gottes Erbarmen, und auch mit meinen Fürbitten für so viele Menschen, die ich liebe.
Dann bekreuzigen sie sich: Sie stellen sich selber mit ihrem ganzen Leben unter das Kreuz Jesu Christi. So wie sie bei der
Taufe zum ersten Mal unter den Schutz des Kreuzes gestellt wurden, so tun sie es nun selbst ihr Leben lang.
Und dann gehen sie zu einer Ikone oder auch zu mehreren und küssen sie. Das mag für uns auf den ersten Blick befremdlich
sein. Wie kann man ein Bild küssen? Aber für orthodoxe Christen ist eine Ikone kein "Bild": Eine Ikone ist geheimnisvolle
Gegenwart dessen, was darauf gemalt ist. Wenn ich eine Marien-Ikone küsse, dann küsse ich auf geheimnisvolle Weise
Maria selbst.
Viele Menschen haben ein Vorbild, einen Menschen, von dem sie gelernt haben, was im Leben
wirklich wichtig ist und wie zu leben sich lohnt. Manche haben berühmte Vorbilder, Albert Schweitzer oder Martin Luther King oder Mutter Theresa; manche
haben in ihrem persönlichen Lebensumfeld ein Vorbild entdeckt: die Großmutter, einen Nachbarn, jemanden aus längst
vergangener Zeit, den kaum jemand kennt. Stellen Sie sich vor, es gäbe einen Raum, in dem sie diesem Menschen
gegenübertreten, ihm begegnen könnten. Würden Sie nicht auf ihn zugehen, ihn umarmen, Ihre Liebe und Ehrfurcht
ausdrücken, und, wenn es denn erlaubt ist, ihn küssen?
In der Ikone ist für einen orthodoxen Christen gegenwärtig, was gemalt ist, und darum ist Ikonenmalen ein heiliges
Geschehen, und der Künstler ist mehr ein Mystiker denn ein Maler. Die Ikonostase, die in jeder orthodoxen Kirche zu finden
ist, ist keine Trennwand, die zwischen den Gläubigen und dem Abendmahlstisch steht, sondern geheimnisvolle Gegenwart
des Himmels: Christus selbst und Maria, alle Engel, die Apostel, die Namenspatrone der Kirche, ja, alle die uns im Glauben
vorangegangen sind, sie sind nahe in den Ikonen und nicht nur im frommen Gedenken der Gläubigen, sie lassen sich gar
berühren, küssen.
Einen Augenblick lang bin ich an der Schwelle des Paradieses, bin ich da, wo Himmel und Erde sich berühren. Und ich kann
auch meine Bitten, mein Leid an die Schwelle des Himmels bringen, ganz nah an die ewige Barmherzigkeit.
Verleihe, o Herr, dass die Ohren, die deinen Lobpreis gehört haben,
verschlossen seien für die Stimme des Streites und Unfriedens,
dass die Augen, die deine große Liebe gesehen haben,
auch deine selige Hoffnung schauen,
dass die Zungen, die dein Lob gesungen haben, hinfort die Wahrheit bezeugen,
dass die Füße, die in deinen Vorhöfen gestanden sind,
hinfort gehen auf den Wegen des Lichts
und dass die Leiber, die an deinem lebendigen Leib Anteil gehabt haben,
hinfort in einem neuen Leben wandeln.
(Aus einem alten orthodoxen Gebet am Ende der Liturgie)
Das himmlische Leben erahnen
Wer je die Kirche im Katharinenkloster mitten auf dem Sinai am Fuß des Mosesberges besucht hat, wird sie nie mehr
vergessen: Diese unzähligen, uralten Ikonen, all die vielen Leuchten aus Gold, die den Glanz zahlloser Kerzen spiegelnd im
Raum verteilen, Kostbarkeiten aus aller Herren Länder, wohin man schaut. Und dieser Duft von Weihrauch, der im Raum liegt!
Wer diese Kirche nicht nur besucht während der Touristenzeit, sondern an einem Gottesdienst teilnimmt, der fühlt sich
hineingenommen in ein heiliges Geheimnis, auch ohne den Gesängen Wort für Wort folgen zu können.
Was im Katharinenkloster auf besonders intensive Weise erfahrbar wird, ist jedoch letztlich jeden Sonntag in jeder orthodoxen
Kirche zu erleben: Die offene Kirchentür lädt ein, die Welt des Alltags hinter sich zu lassen und in eine andere Welt
einzutreten; die Tür zum Himmel steht offen. Orthodoxe Kirchen sind so etwas wie die Vergegenwärtigung des Himmels:
Jesus Christus, der Allherrscher, Maria, seine Mutter, die Allheilige, oft dargestellt als Lebensquell, die Heiligen, allen voran
die Apostel und Propheten, die im Bild auf geheimnisvolle Weise gegenwärtig sind, sie alle holen den Himmel auf die Erde.
Dieser Kirchenraum, der darum nicht kostbar genug geschmückt sein kann, mit goldenen Leuchtern und Zierrat jedweder Art,
in dem es duftet nach Weihrauch, er ist so etwas wie eine Enklave des Himmels auf Erden. Und die Liturgie, die gefeiert
wird, ist ein Abbild der Liturgie, die beständig im Himmel gefeiert wird: "Himmlische Heere der Cherubim stellen wir im
mystischen Geheimnis dar. All irdisch Sinnen und Trachten wollen wir abtun. Denn wir wollen den König des Alls empfangen,
den die Engel unsichtbar im Triumph geleiten, halleluja", so singt der Psaltis beim Großen Einzug.
Soviel Nähe des Himmels mag überwältigen, und dann wirft sich der Mensch am liebsten auf den Boden, um sich selbst so
klein zu machen, wie er sich fühlt. Und wer den Mund öffnet, der ruft vor allem: "Kyrie eleison, Herr, erbarme dich unser!",
unzählige Male, im Bewusstsein der eigenen Erbärmlichkeit vor dem unendlich großen Gott. Und hört immer neu tief bewegt
die Worte : "Denn du bist ein gütiger und Menschen liebender Gott, dir senden wir den Lobpreis empor.." Wirklich: ein
gütiger, Menschen liebender Gott, ein Gott, der sich gern erbarmt. Ein Gott, der angerufen werden will, der gern seinen
Himmel öffnet mit einer Tür zur Erde, damit wir schon etwas ahnen von der ewigen
Freude, die auf uns wartet.
Manchmal kann es freilich auch sein, dass einem Menschen so viel Nähe zum Himmel eher zuviel ist, er kann sie nicht lange
ertragen, er küsst die Ikone und zündet eine Kerze an, aber dann möchte er doch wieder hinaus. Wer kann schon bestehen
vor dem Blick des Allherrschers? Lieber nicht heraustreten aus der großen Schar derer, die nur eben einmal einen Blick
hineinwerfen in den himmlischen Hochzeitssaal, aber dann doch lieber sich sozusagen zurückziehen in den Alltag, als mitten
unter den Cherubim und Seraphim zu schweben. Darum müssen ja auch die Priester, die beständig in diesem geheiligten
Raum sich bewegen, einige ganz besondere Vorschriften in ihrem Lebensalltag beachten, um würdig zu sein, wenigstens
annähernd würdig...
Es mag ein wenig so sein, wie der Erzvater Jakob es erlebte, als er im Traum die Himmelsleiter
schaute: "Führwahr, der EWIGE ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht! Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist
nichts anderes als das Haus Gottes, hier ist die Pforte des Himmels" (1.Mose 28,16f).
Das Fasten
Für unsere orthodoxen Mitchristen hat die Fastenzeit begonnen, mit der sie sich auf das Osterfest vorbereiten. Im Lauf der
Zeit bis dahin werden immer mehr Gläubige sich diesem Fasten anschließen, bis schließlich in der Karwoche der größte Teil
von ihnen sich an diese uralten Regeln hält. Doch was bedeutet dieses Fasten eigentlich?
Schon lange haben Menschen gerade im Frühling aus gesundheitlichen Gründen das Fasten wieder für sich entdeckt. Aber
als vor mehr als zwanzig Jahren die Nordelbische Kirche zum ersten Mal aufrief zu "Sieben Wochen ohne", waren alle
erstaunt, welch ein Echo dieser Aufruf auslöste, und seither hat in der Zeit vor Ostern diese Aktion ihren selbstverständlichen
Ort: Sieben Wochen Verzicht - worauf, entscheidet dann jeder selbst, je nach dem, wovon man womöglich droht, abhängig zu
werden: Alkohol, Zigaretten, aber auch Fernsehen, Internet, Süßigkeiten, Disco- oder Kneipenbesuche. "Sieben Wochen
ohne", um innere Freiheit zurückzugewinnen, um Zeit zu gewinnen, Zeit für das eigene
Woher und Wohin, Zeit für die Mitmenschen.
"Sieben Wochen ohne" können auch dazu dienen, die leise Stimme Gottes im Lärm unseres Alltags wieder zu vernehmen,
weil wir versuchen, wieder leiser zu leben, und damit sind wir schon beim religiösen Sinn des Fastens. Wir besinnen uns
darauf, was ein Mensch wirklich braucht, um glücklich zu sein, und wenn wir auf vieles verzichten, was sonst unseren Alltag
füllt, kann es sein, dass wir allmählich zurückfinden zu der Erfahrung, dass wir vor allem Gott brauchen als
Gegenüber, als Vater und Mutter, als Freundin oder Freund.
Wer in diesen Wochen sein Essen einschränkt und hineingeht in den Hunger, der wird jenseits dieses Hungers nach einiger
Zeit vielleicht eine ganz neue Sensibilität entdecken für eine Begegnung mit Gott, eine tiefere Erkenntnis des eigenen Weges
und eine größere Offenheit für die Mitmenschen. Das sind dann Erfahrungen, die man nicht einfach "inszenieren" kann, sondern die geschenkt werden, vielleicht gerade dann,
wenn man selbst gar nicht damit gerechnet hat.
Wenn orthodoxe Christen in dieser Zeit verzichten auf alles Fleisch, das irgendwie blutet, dann ist dabei
gewiss nicht daran gedacht, dass Shrimps und Tintenfisch und Hummer eine viel größere
Delikatesse sein können, sondern daran, dass nach uralter Überzeugung das Blut der Sitz des Lebens ist. Und über das Leben darf der Mensch nicht verfügen.
Nach der Schöpfungsordnung sollte der Mensch von Pflanzen und Früchten leben; erst nach der
Sintflut werden den Menschen auch die Tiere als Nahrung gegeben, die von da ab die Menschen fürchten. Aber vom Blut sollte man sich fern
halten (vgl. 1.Mose 1,29 und 9,2-4). Wir Menschen sollen immer wieder daran denken, dass wir nicht Herren des Lebens sind,
auch nicht des Lebens von Tieren. Hinter allem Leben steht Gott, der das Leben schuf.
Mögen solche Zusammenhänge auch weithin vergessen sein, so erinnert der Vollzug des Fastens doch immer wieder daran.
Es ist gut, dass das Fasten uns die Grenzen unserer Verfügungsgewalt über das Leben vor Augen führt.
Großherzige Freude über den Sieg des Lebens
Jedes Jahr wird in der orthodoxen Osternachtsliturgie überall in der Welt die folgende Predigt des Kirchenvaters Johannes
Chrysostomos (+407) vorgelesen. Aus dieser Predigt lässt sich ein wenig herausspüren, welche Freude über die Auferstehung
in den Herzen orthodoxer Gläubiger lebt.
Wer fromm ist und Gott liebt, erfreue sich an dieser schönen und glanzvollen Feier. Wenn
jemand ein wohlgesinnter Knecht ist, gehe er fröhlich ein in die Freude seines Herrn. Wer sich beim Fasten bemüht hat, empfange jetzt seinen versprochenen
Dinar. Wer von der ersten Stunde an gearbeitet hat, empfange heute den gerechten Lohn. Wer zur dritten Stunde
gekommen ist, soll dankbar feiern. Wer erst zur sechsten Stunde zu arbeiten begann, verzage nicht, denn er wird nichts einbüßen. Wer
bis zur neunten Stunde säumte, der trete unbesorgt herzu und ohne Furcht. Wenn jemand erst zur elften Stunde kam – er
ängstige sich nicht ob seiner Saumseligkeit.
Denn freigiebig ist der Herr des Weinbergs, den Letzten nimmt er an wie den Ersten. Er
erquickt den, der um die elfte Stunde gekommen ist, ebenso wie den, der von der ersten
Tagesstunde an gearbeitet hat. Dem Letzten erweist er sich gnädig, dem Ersten zeigt er sich
freundlich. Jenem gibt er, diesem schenkt er. Die Arbeit nimmt er an und der gute Wille ist ihm lieb. Die
Tat ehrt er, die Absicht lobt er. Also gehet alle ein in die Freude des Herrn!
Ihr Ersten und ihr Letzten, empfanget den Lohn! Ihr Armen und ihr Reichen, jubelt
miteinander! Ihr Ausdauernden und ihr Saumseligen, ehret diesen Tag! Die ihr gefastet habt und die ihr nicht gefastet habt, freut euch heute! Der Tisch ist reichlich
gedeckt, genießet alle. Das Kalb ist geschlachtet, niemand gehe hungrig hinaus. Labt euch alle am Gastmahl des
Glaubens.
Freut euch alle am Reichtum seiner Güte. Niemand klage über seine Armseligkeit, denn erschienen ist das Reich, das allen
offen steht. Niemand lasse sich lähmen durch seine Verfehlungen, denn Vergebung ist aufgestrahlt aus dem Grab. Niemand
fürchte den Tod, denn des Erlösers Tod hat uns befreit.
Er, der vom Tod umfangen ward, hat ihn vernichtet. Er, der zur Unterwelt hinabkam, hat ihr die Beute entrissen. Bitterkeit ließ
er erfahren den Tod, der ihn verschlingen wollte. Dies sah Jesaja voraus, als er ausrief: "Der Tod ward voller Bitterkeit, als er
dir dort unten begegnete". Voller Bitterkeit ward der Tod, denn er ward überwunden. Voller Bitterkeit ward er, denn er ward
gefesselt. Einen Menschenleib nahm er, doch an Gott geriet er. Erde nahm er, auf den Himmel traf er! Er nahm, was er sah,
und kam zu Fall durch das, was er nicht sah. Auferstanden ist Christus, und niedergeworfen, Tod, bist du! Auferstanden ist
Christus, und gefallen sind die Dämonen.
Auferstanden ist Christus, und es freuen sich die Engel! Auferstanden ist Christus, und das Leben herrscht! Auferstanden ist
Christus, und von den Toten ist keiner mehr im Grabe. Denn Christus ist von den Toten auferstanden als Erstling der
Entschlafenen. Ihm sei die Ehre und die Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit!
Wie schön, wenn man sich von dieser Freude anstecken lassen kann!
Bibel und kirchliche Tradition gehören zusammen
Wenn evangelische Christen von außen auf die orthodoxe Kirche schauen, so begegnen ihnen eine Fülle von
Glaubensaussagen und gottesdienstlichen Gebräuchen, die ihnen sehr fremd erscheinen. Woher mag all dies Fremde
kommen? In der Bibel findet sich davon nur wenig.
Aber für die orthodoxen Christen ist nicht die Heilige Schrift allein Quelle des Glaubens, sondern zur Bibel kommt hinzu die
kirchliche Tradition und das gottesdienstliche Leben. Die griechisch-orthodoxe Kirche sieht sich selbst in ungebrochener
Kontinuität mit den allerersten christlichen Gemeinden: Das ist ihre eigentliche Basis. Für evangelische Christen, an das
reformatorische "sola scriptura" ("allein die Schrift") gewöhnt, mag das auf den ersten Blick befremdlich erscheinen. Aber
schauen wir genauer hin:
Wenn wir zurückgehen zu den Anfängen des christlichen Glaubens, so sehen wir, dass das Neue Testament inmitten der
bereits existierenden Gemeinden entstanden ist: Für sie wurden die Worte und Taten Jesu aufgezeichnet und allmählich zu
den Evangelien zusammen gefügt, und einige der zahlreichen Apostelbriefe wurden zusammen mit der Apostelgeschichte
und der Offenbarung des Johannes allmählich für "kanonisch" erklärt, d.h. als zuverlässige Quellen des Glaubens anerkannt.
Wer entschied, welche der zahlreichen Evangelien ins Neue Testament aufgenommen werden sollten und welche der vielen
kursierenden Apostelbriefe? Die Kirche, genau gesprochen die Synoden, die
mancherorts zusammen traten: Sie mussten entscheiden, welche Texte in den christlichen Gottesdiensten vorgelesen werden durften, und es dauerte etwa drei
Jahrhunderte, bis endlich Einmütigkeit über den Umfang des Neuen Testamentes herrschte. Insofern betrachten die
orthodoxen Christen mit Recht die Kirche als den Mutterschoß der Heiligen Schrift.
Die kirchliche Tradition erwies sich auch als Hilfe bei der Auslegung der Heiligen Schrift. Woher sonst
wüssten wir zum Beispiel, dass Andronikos und Junias, denen Paulus im Römerbrief (16,7) zugesteht, sie seien schon vor ihm Apostel
gewesen, keine Brüder waren, sondern ein Ehepaar, und darum der zweite Name "Junia" heißen
muss? Älter als die älteste Handschrift des Neuen Testamentes ist nämlich eine Predigt des Kirchenvaters Johannes Chrysostomos, in der er über
dieses Ehepaar spricht und bezeugt, dass in frühester Zeit im Römerbrief wirklich der Name Junia stand. Also wurde erst in
späterer Zeit aus Junia ein Junias gemacht - vermutlich sollte die Tatsache, dass
eine Frau den Titel Apostolin getragen hat, aus der Welt geschafft werden.
Noch abenteuerlicher ist die Geschichte von der Ehebrecherin im Johannes-Evangelium (8,2-11), eine Perikope, die für uns
ins Herz des Neuen Testamentes gehört. Es gab diesen Bericht schon in früher Zeit, aber er fand zunächst keine Aufnahme
in ein Evangelium, so anstößig war die Geschichte in den ersten christlichen Jahrhunderten. Denn Ehebruch gehörte
zusammen mit Mord und Glaubensabfall zu den schwersten Sünden überhaupt, für die man ein Leben lang Kirchenbuße tun
musste. Und da soll Jesus mit dem einen Satz: "Geh hin und sündige von nun an nicht mehr" der Sünderin Vergebung zugesprochen haben? Untergräbt ein solcher Satz nicht die Kirchenzucht, die die Gläubigen danach eifern lässt,
"Gemeinschaft der Heiligen" zu sein? Aber diese Geschichte ließ sich nicht in
Vergessenheit bringen, immer wieder tauchte sie in Handschriften des Neuen Testamentes auf, bis sie endlich im 8.
Jahrhundert ihren endgültigen Platz im Johannesevangelium erhielt, wiederum durch die
Entscheidung einer Synode.
Schrift und Tradition enthalten für orthodoxe Christen keine Gegensätze, sondern bezeugen
gemeinsam Gottes Offenbarung an uns Menschen, sie korrigieren und bestätigen einander. Beide sind sie notwendig, um die Kirche auf der Spur des
Evangeliums zu halten.
Der einzige Bekenntnis-Unterschied: unbegründet und unbegreiflich
Wir haben mit den orthodoxen Christen ein gemeinsames Glaubensbekenntnis (nachzulesen in
unserem Gesangbuch unter der Nr. 805) - bis auf ein einziges Wort:
"Wir glauben an den Heiligen Geist, der Herr ist und lebendig macht,
der aus dem Vater und dem Sohn (lateinisch: filioque ) hervorgeht,
der mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird,
der gesprochen hat durch die Prophethen.."
Was da im Deutschen drei Worte sind, "..der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht", ist im
Lateinischen ein einziges, filioque, und um dieses Wort dreht sich ein uralter Streit.
In den Konzilien zu Nicäa und Konstantinopel war zu glauben festgehalten, dass der Heilige Geist, die dritte Person der
Allerheiligsten Dreifaltigkeit, allein vom Vater ausgeht, und tatsächlich war das
Glaubensbekenntnis jahrhundertelang ausschließlich in den Kirchen des Westens wie des Ostens so im Gebrauch. Der Zusatz, der Heilige Geist gehe nicht nur
vom Vater, sondern auch vom Sohn aus, taucht zum ersten Mal im 6. Jahrhundert in Spanien auf und fand offensichtlich rasch
Zustimmung. Lateinische Mönche, die im Jahre 807 in Jerusalem das Glaubensbekenntnis mit diesem Zusatz
sangen, lösten damit einen heftigen Streit mit den dortigen griechischen Christen aus. Papst Leo III. stellte daraufhin 809 fest, der Zusatz sei
zwar in sich rechtgläubig, aber niemand habe das Recht, am Glaubensbekenntnis auch nur ein einziges Wort zu ändern, und
ließ zwei Tafeln mit dem griechischen und dem lateinischen Text ohne den Zusatz im Petersdom aufstellen. Schließlich habe
ja das von allen anerkannte Konzil zu Ephesus festgelegt, dass der Wortlaut des christlichen Bekenntnisses ein für allemal
feststehe.
In den folgenden Jahrhunderten drehte sich denn auch der Streit viel weniger um den Inhalt des
Zusatzes "filioque", als vielmehr darum, ob der römische Papst als Patriarch des Westens das Recht habe, am Glaubensbekenntnis irgendetwas zu
ändern. Der theologische Inhalt dieses Streites war den einfachen Gläubigen ja ohnehin nicht zu vermitteln. Das Glaubensbekenntnis, einst formuliert in der Sprache griechischer
Philosophie, war schon damals ein schwieriger Text, den man zwar auswendig lernte, aber kaum verstand.
Im 15. Jahrhundert gab es noch einmal intensive Religionsgespräche zwischen Ost und West zu
diesem Thema:
Konstantinopel war in äußerster Bedrängnis wegen der Türken und hätte den Beistand des Westens dringend gebraucht.
Stattdessen sieht es so aus, als hätte man im Patriarchat Rom diese Bedrängnis ausgenutzt, um dem Osten das "filioque"
aufzuzwingen. Kein Wunder, dass diese Gespräche scheiterten, Ost und West blieben in dieser Frage uneins.
Warum wir heute noch von diesem alten Streit reden? Es blieb für die orthodoxe Kirche unbegreiflich, warum der Westen mutwillig das gemeinsame Glaubensbekenntnis aufgegeben hat und nicht bei der Tradition geblieben ist, die viele
Jahrhunderte lang Ost und West miteinander verbunden hat.
Die Altkatholische Kirche hat übrigens schon 1875 diesen Zusatz aus ihrem Bekenntnis gestrichen. Der Respekt vor der
Geschichte könnte auch den anderen westlichen Kirchen helfen, einen uralten Stolperstein auf dem Weg der ökumenischen
Begegnung zur Seite zu rollen.
Verwundet und gedemütigt durch die westliche Kirche
Wenn sich die Christen des Westens und des Ostens in ihrem Glaubensbekenntnis so nahe sind, wie kommt es dann,
dass sich ökumenische Kontakte oft als so schwierig erweisen?
Seit Ende des 12. Jahrhunderts zogen westliche Kreuzfahrer immer wieder gen Osten, um die heiligen Stätten der Christen
aus der Hand der Ungläubigen zu befreien. Damit befanden sie sich durchaus grundsätzlich im Einklang mit den Wünschen
des Byzantinischen Kaisertums und Patriarchats. Aber daraus wurde etwas ganz anderes: 1204 stürmten Kreuzritter
Konstantinopel, richteten ein Blutbad unter der Bevölkerung an, plünderten und raubten die Stadt aus, und vertrieben den
einheimischen Klerus. Einen kleinen Teil der damals erbeuteten Kunstschätze kann man noch heute im Domschatz von San
Marco in Venedig sehen - Beutekunst! Und was nicht geraubt wurde, wurde geschändet, zerstört, ins Meer geworfen. Statt
des einheimischen Klerus wurden "lateinische", also westliche Bischöfe und selbst Patriarchen eingesetzt, in Konstantinopel
nicht anders als in Antiochien und Jerusalem. Die einheimischen Christen dort wurden behandelt wie Ungläubige. Damit
wurde die orthodoxe Kirche aufs Bitterste gedemütigt und geschwächt.
Hätten die Kirchen des Westens treu an der Seite ihrer Brüder und Schwestern gestanden, wäre es den Türken vielleicht nicht
möglich gewesen, 1453 Konstantinopel einzunehmen. Stattdessen nutzte das Patriarchat Rom die geschwächte Lage der
Orthodoxen Kirche aus, um immer wieder neu auf Unionen zu drängen, die letztlich bedeutet hätten,
dass die Kirchen des Ostens sich der westlichen Kirche eingliedern. Statt uneigennützig zu helfen, versuchte damals die römische Kirche, den
eigenen Machtbereich zu erweitern. Da solche Pläne scheiterten, setzte man alles daran, wenigstens einzelne Teile der
orthodoxen Kirche, Bistümer, ganze Landstriche für die Union mit Rom zu gewinnen.
Dadurch spaltete sich die orthodoxe Kirche vielerorts, es gab von nun an neben den orthodoxen
Kirchen die "unierten", die im gottesdienstlichen Ritus weitgehend bei der alten Ordnung blieben, aber ansonsten dem Papst unterstellt waren. Die alte
Einheit war zerstört.
Im Laufe der Reformation versuchte Philipp Melanchthon, Kontakt aufzunehmen mit dem Patriarchen von Konstantinopel, um
deutlich zu machen, dass die Reformation keinen "neuen" Glauben einführen wolle: "Dies war die Lehre und der Glaube der
Apostel,... dies ist auch unser Glaube und unsere Religion und keine andere. Im übrigen gibt es Neues bei uns nicht. Wir
haben keine neue Bibel,... sondern jene alte." Doch lagen Wittenberg und Konstantinopel (mitten im osmanischen Reich)
einfach zu weit auseinander, um miteinander im theologischen Gespräch zu bleiben, der Kontaktversuch scheiterte.
Im Westen setzte sich allmählich ein Vorurteil durch: die orthodoxe Kirche sei innerlich ausgehöhlt, verdorrt, nicht mehr
lebendig. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts an bildeten sich in Amerika wie in Westeuropa evangelikale
Missionsgesellschaften, die den Heiden das Licht des Christentums bringen wollten. Als sie entdeckten,
dass sie in
Nordafrika, in Palästina und in den ehemals türkischen Gebieten unter den Muslimen keinen Erfolg hatten, drangen sie in die
Gebiete der Orthodoxie ein, von Ägypten über Palästina, Syrien bis nach Griechenland, als lebten dort noch keine Christen.
Sie predigten, erst dann sei man ein wirklicher Christ, wenn man sein Leben persönlich Jesus übergeben habe; so wie es in
ihren neu entstehenden Gemeinden üblich sei, sonst stünde man gleichsam nur im Vorhof des Glaubens. Manche von ihnen
erkannten nicht einmal die orthodoxe Taufe an, sondern verkündeten die Erwachsenentaufe auf Grund eines persönlichen
Glaubensbekenntnisses als allein seligmachend. So kam es aus orthodoxer Sicht zu Wiedertaufen. Solche Praktiken
verletzten die orthodoxe Kirche tief.
Deshalb ist es für das ökumenische Gespräch mit der Orthodoxie eine Grundvoraussetzung zu erklären,
dass keinerlei Form von Abwerbung, von "Proselytismus" sich im Gewand des Ökumenischen Gesprächs einschleichen werde. Und weiter ist es
notwendig, deutliche Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen für unsere orthodoxen Schwestern und Brüder, die das Neue
Testament noch immer in der Ursprungssprache lesen und in ihren Gottesdiensten verkünden, und die noch immer in
lebendiger Verbindung stehen mit den Traditionen der Kirche in den ersten Jahrhunderten. Wenn dies glaubwürdig geklärt ist,
dann zeigt sich, dass gerade vom Ökumenischen Patriarchat Konstantinopel Angebote zur Begegnung mit großer Offenheit
angenommen werden.
Die Taufe - untertauchen und emportauchen
Wohl die meisten von uns haben schon einmal eine orthodoxe Taufe erlebt und schon auf den ersten Blick einen
entscheidenden Unterschied wahrgenommen: Die orthodoxe Kirche tauft grundsätzlich durch Untertauchen. Diesen Ritus hat
sie aus der frühen Christenheit bis in unsere Zeit bewahrt.
Der Taufe geht eine Absage an das Böse und ein Bekenntnis des Glaubens voraus. Die Salbung mit Katechumenen-Öl soll
den Täufling stärken, damit er in der Tiefe des Taufwassers den Kampf mit den Mächten der Finsternis gewinnen kann. Über
das Untertauchen schreibt der Kirchenvater Gregor von Nyssa: "Wir sind nicht wirklich begraben worden durch die Taufe; aber
indem wir uns dem Wasser nähern, welches wie die Erde ein Element ist, verbergen wir uns darin, wie der Erlöser sich in der
Erde verborgen hat". Und weiter führt Cyrill von Jerusalem aus: "Wie derjenige, der mit Nacht umgeben ist, nichts mehr sieht,
wie hingegen einer, der vom Tageslicht umflossen ist, im Licht wandelt, so sahet auch ihr beim Untertauchen wie zur
Nachtzeit nichts, beim Emportauchen aber hinwieder befandet ihr euch wie am Tage."
Gleich im Anschluss an die eigentliche Taufe wird der Täufling noch einmal gesalbt, diesmal mit Myron-Öl. Die orthodoxe
Kirche sieht in dieser Salbung so etwas wie die Handauflegung, durch welche die Apostel den Getauften in Samaria den
Heiligen Geist mitteilten. Wer getauft und gesalbt ist, ist ein vollwertiges Glied seiner Kirche und damit auch zum Abendmahl
zugelassen. Wegen der Strenge der Fastenvorschriften für Erwachsene sind es vielerorts gerade die kleinen Kinder, die zum
Abendmahl gebracht werden, um den Segen für alle ins Haus zu holen.
Erkennt die orthodoxe Kirche die in einer westlichen Kirche gespendete Taufe an? Im Prinzip ja, selbstverständlich: Die
orthodoxe Kirche erkennt die Taufe eines jeden Gliedes in einer christlichen Gemeinschaft als gültig und heilbringend an,
wenn sie richtig im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes von einer Person, die an die Dreifaltigkeit
glaubt, gespendet wurde.
In der Kirchengeschichte jedoch zeigt sich, dass immer wieder dann, wenn von westlichen Kirchen aggressive Mission unter
orthodoxen Christen betrieben wurde, die Gültigkeit der westlichen Taufe in Frage gestellt wurde, und zwar mit der
Begründung: Jedes Sakrament sei ja ein Sakrament der Kirche, und da es außerhalb der Orthodoxie keine wahre Kirche
gebe, bewirke der Vollzug der Taufhandlung allein noch nicht das Zustandekommen einer heilbringenden Taufe. Zum Glück wird
diese Ansicht heute nur von kleinen, theologisch ungebildeten, aber manchmal ebenfalls recht aggressiven Randgruppen
vertreten. Das Patriarchat von Konstantinopel dagegen gehört zu den großen Förderern der ökumenischen Bewegung in
Treue zur Predigt des Kirchenvaters Johannes Chrysostomos: "Nicht der Mensch bewirkt, was sich (in der Taufhandlung)
vollzieht, sondern die Gnade des Heiligen Geistes."
Lange Zeit unterschiedliche Formen und Bräuche, aber derselbe Glaube
Wie nah oder fern ist uns westlichen Christen eigentlich die orthodoxe Kirche? Im Glauben ist sie uns zweifellos ganz nah,
beten wir doch (von einem einzigen Wort abgesehen – Näheres dazu auf Seite 9) genau das gleiche Glaubensbekenntnis wie
sie. Die ersten großen Konzilien des 4. und 5. Jahrhunderts, in denen das christliche Bekenntnis in seinen Grundzügen
formuliert wurde, werden von uns wie von ihnen anerkannt: Wir bekennen, dass Gott Vater die Welt erschaffen hat,
dass Jesus
Christus Gott und Mensch zugleich war, der uns durch sein Kreuz und seine Auferstehung erlöst hat, wir bekennen,
dass Gottes Geist uns leitet und uns zusammenführt in der einen Kirche, die gegründet ist auf die
Taufe, wir bekennen unseren Glauben an die Auferstehung der Toten.
In den ersten christlichen Jahrhunderten wurde um dieses Glaubensbekenntnis auf mehreren ökumenischen (d.h.
"weltweiten") Konzilien intensiv gerungen. Kirchen spalteten sich ab: sei es, dass sie Jesus nur "wesensähnlich", aber nicht
"wesensgleich" mit Gott Vater bekannten (und folgerichtig Maria nicht "Gottesgebärerin" nannten, sondern nur "Mutter Jesu"),
sei es, daß sie in Jesus ausschließlich eine göttliche, nicht aber auch eine menschliche Natur bekannten oder nur einen göttlichen, nicht auch einen menschlichen Willen. Diese Kirchen existieren bis auf den heutigen Tag, wir westlichen Christen
nennen sie die "altorientalischen Kirchen" - die koptische Kirche, mit der wir auf der Nahostkonferenz in Kairo ein wenig
Kontakt hatten, zählt zu ihnen.
Zwischen dem Patriarchat von Konstantinopel, der Mutterkirche der Orthodoxie, und dem Patriarchat von Rom, der
Mutterkirche des Westens, gab es keine solchen Glaubensunterschiede. Beide hielten gemeinsam fest an dem einen
Bekenntnis, dem "Nicaeno-Constantinopolitanum", das in unseren Gottesdiensten zwar nur selten gesprochen wird, aber
doch in unserem Gesangbuch selbstverständlich zu finden ist - nachzulesen unter der Gesangbuch-Nr. 805.
Dass sich dann in den gottesdienstlichen Feiern die Gebräuche und Texte selbständig und
unterschiedlich entwickelten, darf nicht verwundern, wenn man sich nur vorstellt, wie weit Rom und
Konstantinopel, Antiochien, Alexandrien und Jerusalem, die weiteren Patriarchate der Ostkirche, auseinander lagen. Natürlich tauschte man Gebetstexte aus, wenn es sich so ergab,
Kirchenväterpredigten, Entscheidungen örtlicher Synoden und dergleichen. Doch die Wege durch das Mittelmeer waren weit
und gefährlich, kein Patriarch verließ monatelang seine Herde, man hielt Kontakt nur durch Boten oder durch Briefe.
Den intensivsten Kontakt jedoch hielt man durch die Fürbitten: In jedem Patriarchat gab es Listen, mit welchen anderen
Patriarchen man geschwisterliche Gebetsgemeinschaft pflegte. Aus einer solchen Liste gestrichen zu werden bedeutete
nichts weniger, als von nun an als irrgläubig zu gelten, in sie wieder aufgenommen zu werden,
dass man wieder zur Gemeinschaft der Rechtgläubigen hinzugezählt wurde.
Die Kirchengemeinschaft an der Gleichförmigkeit der Liturgie festzumachen, wäre niemandem in den Sinn gekommen. Zwar
bildeten sich überall ähnliche Grundformen, nämlich: ein Eingangsritus mit Psalm und Gebet, dann Schriftlesungen aus dem
Alten und Neuen Testament und dann die Mahlfeier mit dem Einsetzungsbericht nach den Worten der Heiligen Schrift und
dem Vater Unser und einem Schlussritus mit Gebet und Segen. Doch wurden diese Grundformen immer reicher ausgestaltet,
dann wieder neu gefasst, reformiert, dem religiösen Empfinden und Sprachgebrauch der jeweiligen Zeit, der unterschiedlichen
Länder angepasst. Liturgie war etwas Lebendiges, wenn auch Ehrwürdiges, und nicht allen möglichen Moden unterworfen. So
wie es auch heute noch ist oder zumindest sein sollte...
Nonnen und Mönche
Die Orthodoxe Kirche ist nicht denkbar ohne ihre Klöster. Zwar gibt es in der Zahl der Mönche und Nonnen große
Schwankungen, wellenförmig zumeist, aber auch bei geringer Zahl bleiben die Klöster so etwas wie Orientierungspunkte für
das Geistliche Leben der Gläubigen. Selbst wer wenig vom Klosterleben weiß, spürt doch oft,
dass Klöster ganz besondere Orte sind, Orte der Stille, die einladen, die etwas ausstrahlen und Kraft geben.
Schon in der frühen Christenheit gab es einzelne Gläubige und kleine Gruppen, die sich in die Wüste oder ähnlich unwirtliche
Orte zurückzogen, um ganz dem Gebet und der Buße zu leben. Bald zeigte sich die Notwendigkeit einer gemeinsamen
Regel, die das Zusammenleben ordnete: Die Regel des hl. Basilios von Caesarea ist bis auf den heutigen Tag die
Grundordnung des orthodoxen Klosterlebens.
"Betet ohne Unterlass", schrieb einst der Apostel Paulus an die Thessalonicher (1.Thess. 5,17). Doch wie soll das möglich
sein, wenn wir Menschen in unserem Alltag durch so viele Pflichten in Anspruch genommen werden? Schon seit alter Zeit
wird in den Klöstern das "Herzensgebet" oder "Jesusgebet" geübt: "Herr Jesus, Sohn Gottes, erbarme dich über mich
Sünder!" Dieser eine Satz wird wieder und wieder gesprochen, er verbindet sich allmählich mit Herzschlag und Atem, und bleibt auch dann im Menschen gegenwärtig, dessen Hände Kartoffeln schälen oder den Fußboden scheuern. Das in Taizé
immer wieder gesungene Gebet: "O Christe, Domine Jesus", "O Christus, Herr Jesus", ist eine noch kürzere Form dieses
Herzensgebetes, das viele junge Menschen dort in sich aufnehmen. Klöster können zu Schulen des Gebetes werden für
suchende Menschen.
Orthodoxe Gläubige bitten Mönche und Nonnen um Fürbitte: nicht etwa, weil sie meinen, das Gebet eines einfachen Christen
sei weniger Wert als das Gebet von Ordensleuten. Es tut einfach gut zu wissen, dass
ein großer Chor von Betern, ein Anliegen mitträgt. Das macht es vielleicht auch leichter, es hinzunehmen, dass Gott die Bitten erhört gemäß Seinem und
nicht unserem Willen.
Klöster sind Orte der Seelsorge: Menschen suchen das Gespräch mit Mönchen und Nonnen und
erleben, dass diese gar nicht so weltfremd sind, gerade weil sich ihnen so viele Menschen mit ihren
Fragen und Sorgen anvertrauen. Manchmal kann das ein ganz spontanes Gespräch sein, in der Kirche, auf dem Hof, selbst im Klosterladen. Darüber hinaus aber kommen
Menschen ausdrücklich ins Kloster mit der Bitte um seelsorgliche Begleitung: Sie erwarten, dort einen Menschen zu treffen,
der sich Zeit für sie nimmt, der Erfahrung hat und Weisung geben kann.
Der Mönchsvater Basilios empfiehlt den Mönchen und Klosterschwestern ein gemeinsames Leben: Demut, Geduld und
Rücksichtnahme aufeinander werden so Tag für Tag geübt. Jeder Bruder, jede Schwester soll alle Regungen seines, ihres
Herzens seinem geistlichen Begleiter offen legen und um Weisung und Korrektur bitten. Erst diese beständige Begleitung des
eigenen Weges befähigt Brüder und Schwestern, anderen seelsorgliche Begleitung anzubieten. Manchmal entsteht auf diese
Weise eine tiefe, langjährige Beziehung. Auch als Beichtväter werden Mönche sehr geschätzt: Es ist leichter, sich gegenüber
einem Priester im Kloster ganz zu öffnen als gegenüber dem eigenen Pfarrer, den man tagtäglich auf der Straße trifft.
Der Sinn des mönchischen Lebens, schreibt der heilige Basilios, bestehe darin, den Willen Gottes zu verwirklichen. Dem Abt
soll jeder demütig gehorchen, der Abt hingegen soll auf nichts anderes aus sein, als seinen Brüdern zu dienen. "Wir haben
uns ein und dasselbe Ziel gesetzt, und zwar der Frömmigkeit gemäß zu leben. Wir haben uns hier im Namen unseres Herrn
Christus versammelt: ihr, um manches über die Erlösung zu lernen; ich, um Tag und Nacht die Gebote des Herrn zu
predigen" (so der hl. Basilios in der Vorrede zu den Großen Regeln).
Gleiche Wertschätzung für Männer und Frauen
Welche Bedeutung haben die Frauen in der orthodoxen Kirche? Der griechisch-orthodoxe Theologe Grigorios Larentzakis
schreibt: "Ohne das Mitwirken der Frauen in der Kirche, unabhängig von
Funktionen und konkreten Leistungen, wäre unsere Kirche viel ärmer, sie könnte gar nicht existieren. Es handelt sich hier nicht um ein bloßes Lippenbekenntnis, sondern um
eine Realität, wofür wir den Frauen dankbar sein müssen."
Wer sich sonntags in einer orthodoxen Kirche umsieht, wird das sofort glauben: Wie in anderen
christlichen Kirchen sind auch in der orthodoxen Kirche die meisten Gottesdienstbesucher weiblich. Werden sie auch entsprechend geschätzt?
Frauen und Männer "sind gleichwertige Glieder des Leibes Christi, Kinder Gottes und Erben seiner Verheißungen, berufen zur
harmonischen Zusammenarbeit für den Bau und das Wachstum der Kirche - des Leibes Christi - , und für die Verwirklichung
ihres Heilswirkens in der Welt", denn beide gehören durch die Taufe dem 'königlichen Priestertum' an". So lesen wir beim
angesehenen griechisch-orthodoxen Dogmatiker Johannes Karmiris. Er bekräftigt, dass
Frauen Theologie studieren, Religionsunterricht erteilen und auch als Professorinnen Theologie lehren dürfen,. Sie dürfen im Gottesdienst Lesungen
vortragen, singen, ja selbst predigen. Sie können mitarbeiten in der Diakonie und in der Leitung der Gemeinde, und sie
können Bischöfe bei Synoden beraten.
Freilich wird dieser theologisch mögliche Rahmen nur selten ausgeschöpft: ich selber habe noch nie in einer orthodoxen
Kirche eine Frau predigen hören. Singend habe ich vor allem Nonnen erlebt. Eine orthodoxe Theologieprofessorin ist mir noch
nie begegnet. Sicher ist allerdings, dass in Nordamerika, wo orthodoxe Auswanderer orthodoxe Kirchen haben entstehen
lassen, die Entwicklung schon weiter fortgeschritten ist.
Aber kann eine Frau auch zur Priesterin geweiht werden? Die orthodoxe Kirche, die sich stets an der Tradition der Alten
Kirche orientiert, bestreitet nicht, dass es in der frühen Kirche jedenfalls
Diakoninnen gab. Diese waren unabdingbar notwendig für die Taufe von Frauen, da es für Priester als un-schicklich betrachtet worden wäre, Frauen von Kopf bis Fuß mit
heiligem Öl zu salben.
Umstritten ist freilich, ob dieses Amt der Diakonin genauso wie das Amt des Diakons als ein "Weiheamt" verstanden wurde,
durch das dann die Diakonin ebenso in den Klerus aufgenommen worden wäre wie ein männlicher Diakon.
Die Frage nach der Priesterweihe für Frauen hat sich für lange Zeit in der orthodoxen Kirche überhaupt nicht gestellt, und
wenn in immer mehr westlichen Kirchen Frauen ordiniert, ja sogar zu Bischöfinnen ernannt werden, so galt dies dem orthodoxen Klerus eigentlich bisher nur als ein Beweis dafür, wie weit doch diese westlichen Kirchen, nur um "modern" zu
sein, die alten Traditionen der Christenheit über Bord geworfen haben. Aber eine Konsultation zwischen der orthodoxen und
der altkatholischen Kirche im Jahre 1996 hat Bewegung in dieses Thema gebracht.
Priesterinnen? - Nur "im Prinzip"
Die Konsultation zwischen der orthodoxen und der altkatholischen Kirche im Jahr 1996 widmete sich auch dem Thema
"Priesterweihe für Frauen". Dabei wählte man als Ausgangspunkt nicht die Frage, wie weit die Kirchen sich dem Wunsch von
Frauen nach Gleichberechtigung öffnen müsse (was in der Orthodoxie sofort eine ablehnende Haltung auslöst), sondern man
ging aus von dogmatischen Prinzipien der Alten Kirche. Diese Gedankengänge möchte ich wenigstens in ihren Grundzügen
ein wenig erläutern:
In der alten Kirche war es selbstverständlich, in "Adam", dem Geschöpf Gottes, den Menschen überhaupt zu sehen, nicht
nur in seiner männlichen Ausprägung. Der Mensch ist Gottes Ebenbild, nicht etwa nur der Mann. Ebenso ist Jesus Christus,
um uns zu erlösen, nicht etwa nur Mann, sondern "Mensch" geworden: Er hat nicht nur die männliche, sondern auch die
weibliche Natur angenommen, denn sonst wäre seine menschliche Natur unvollkommen, was dem Konzil von Chalcedon (451) widerspräche.
Da nun nach orthodoxem Verständnis der Priester bzw. der Bischof Christus repräsentiert, kann das Geschlecht dieses
Repräsentanten keine Rolle spielen, denn der Priester soll ja ganz ausdrücklich nicht nur das Mannsein Christi, sondern sein
Menschsein überhaupt repräsentieren. So wie Adam und Christus die ganze Menschheit repräsentieren, so tun es auch Eva
und Maria. Marias "Heilsfunktion" ist für Orthodoxe Gläubige genauso gültig für Männer wie für Frauen.
Diese Überlegungen führen trotzdem nicht dazu, dass die Orthodoxe Kirche nun etwa doch in Erwägung zieht, Frauen zu
Priesterinnen zu weihen. Der bloße Umstand, dass viele Jahrhunderte lang solches nicht geschah, hat für die Orthodoxie ein
eigenes Gewicht.
Aber diese Erkenntnisse ermöglichen immerhin eine andere Einschätzung jener Kirchen, die
inzwischen zur Ordination von Frauen übergegangen sind, nämlich die, "dass die Ordination von Frauen die Gemeinschaft und Einheit der Kirche oder die
Wiederherstellung der zerbrochenen Einheit und Gemeinschaft nicht fundamental zerstören oder in Frage stellen sollte,
obschon Einschränkungen in der Praxis durch die nicht voll gewährleistete Austauschbarkeit von Geistlichen gegeben sind".
So steht es im Abschlussdokument der erwähnten Konsultation, u.a. von dem orthodoxen Theologen Prof.
Anastasios Kallis unterzeichnet.
Erste Konsequenzen aus diesen Einsichten hat das ehemals griechisch-orthodoxe Patriarchat von Antiochien (heute
rum-orthodox genannt) gezogen. Dort wurde im Mai 1997 durch die Synode eine Erklärung verabschiedet, die altes kirchliches
Unrecht gegenüber Frauen wiedergutmachen soll. Darin heißt es: "Alles, was besagen kann, dass die Frau mit Unreinheit
behaftet sei, oder dass die Ehe unrein und nicht heilig sei, wird abgeschafft." Alle Gebete und liturgischen Texte sollen auf
frauenfeindliche und diskriminierende Aussagen hin untersucht und entsprechend umformuliert werden. Als sichtbares
Zeichen dafür dürfen in der rum-orthodoxen Kirche Frauen den Altarraum betreten, Mädchen dürfen Ministrantinnen werden.
Mit dieser Synodenentscheidung ändert sich natürlich eine uralte kirchliche Praxis nicht mit einem Schlag. Aber Frauen
haben das Wort einer Synode auf ihrer Seite, wenn sie sich dagegen wehren, als Christen zweiter Klasse betrachtet zu
werden, als unfähig, das Priesteramt auszuüben.
Die Heiligen des Himmels sind ganz nah
Wer eine orthodoxe Kirche betritt, wird zumeist an den Wänden des Kirchenschiffs eine große Zahl von ernst
dreinschauenden Menschen erblicken, Männern und Frauen. Manche sind stets in der gleichen Szene abgebildet, wie etwa
der heilige Georg als Drachentöter, andere sind an bestimmten Zeichen zu erkennen, wie etwa Konstantin und Helena mit
dem Kreuz oder die heilige Paraskevi, die oft ein paar Augen in ihrer Hand trägt. Oder sie tragen in ihrem Heiligenschein ihren
Namen.
Die dort ihr Bild an der Kirchenwand bekommen haben, sind "Heilige", Menschen also, die in
besonders vorbildlicher Weise ihren Glauben gelebt haben. Es sind Menschen, auf die die Gläubigen
aufmerksam geworden sind, und die sie als Weggefährten, große Brüder und Schwestern auf dem Weg in die Ewigkeit erleben. Wer eine Kirche betritt, betritt einen
Raum, in dem in gewisser Weise die Zeit aufgehoben ist: Die uns im Glauben vorangegangen sind, sind in diesem Raum gegenwärtig, sie strecken uns hilfreich ihre Hände entgegen, bieten uns ihr Weggeleit an.
Es sind so viele, weil jedes Menschen Weg ein anderer ist. Manchmal mag es schon die Ikone, das Fresko selbst sein, das
einen Funken überspringen lässt. Vielleicht ist es auch der Heilige, dessen Namen ich trage. Oder wer sich die Mühe macht,
die Lebensgeschichten der Heiligen kennen zu lernen, wird irgendwann einmal das Gefühl haben: Ja, neben diesen
Menschen möchte ich mich stellen; wenn es möglich ist, soll er mein Bruder, soll sie meine Schwester sein.
Niemand glaubt ganz für sich allein. Unser Glaube hat nicht in uns allein seine Quelle, andere
Menschen haben ihn uns nahe gebracht. Das können die Eltern sein, ein bestimmter Pfarrer oder eine bestimmte Religionslehrerin, eine
Kindergottesdiensthelferin, jemand in der Jugendgruppe, in Bibelrüstzeiten, die Brüder von Taizé. Wir stehen aber auch mit
unserem Glauben auf den Schultern vieler, deren Namen uns nicht vertraut sind, ohne die aber dennoch der Glaube auf
seinem unerhört langen Weg durch die Länder und Zeiten nicht unversehrt erhalten geblieben wäre.
Vielleicht fallen uns zuerst die Märtyrer ein, deren Blut, so sagte man, der Same des Evangeliums war: Dass da jemand
bereit war, für seinen Glauben zu sterben, das beeindruckte viele Menschen, die recht und schlecht mit ihren
althergebrachten Hausgöttern lebten. Oder jene Menschen, die alles hinter sich gelassen haben, um als Boten des
Evangeliums bis an die Grenzen der damaligen Welt zu ziehen; nach der Tradition soll der Apostel Thomas bis nach Indien,
der Apostel Matthias nach Trier und die Geschwister Martha, Maria und Lazarus bis nach Marseille gekommen sein.
Vielleicht denken wir an Franziskus, an Elisabeth von Thüringen, die die Hinwendung des Evangeliums zu den Armen wieder
neu gelebt haben. Oder auch an die Reformatoren, die das Wort der Schrift wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit
brachten.
Sie alle sind die "Gemeinschaft der Heiligen", von denen wir im Glaubensbekenntnis sprechen, und sie sind nicht nur eine
Idee, ein längst vergangener Traum. Vielmehr sind sie lebendig in unserer Mitte. Sie treten heraus aus dem gemalten oder
gedachten Bild, stellen sich uns zur Seite, und bieten uns ihre Glaubenserfahrung als Weggeleit an.
Und für einen Augenblick dürfen wir uns schon fühlen, als seien Raum und Zeit vergangen, und als lebten wir schon alle miteinander in Gottes Ewigkeit.
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