GASTBEITRAG
Gastbeitrag von Paul:
"Im November - ein Nachmittag in Lindos"
Kurz nach Mittag
trampelt die Ladung von acht Reisebussen durch die engen Gässchen des
weltberühmten Ortes. Es sind Amerikaner, die am vorhergehenden Abend mit einem
Kreuzfahrtschiff im Hafen von Rhodos vor Anker gegangen waren. Mächtige "breitärschige"
Erscheinungen. Während die meisten, von der Besichtigung der Kreuzritterburg der
Johanniter erschöpft, wieder herunterwatscheln, kommen unten am Platz vor dem
Eingang in das labyrinthische Gewirr der Gässchen in einem Taxi zwei
Ella-Fitzgerald-Doubles an, die sich mühsam dem Gefährt entwinden. Es ist Mitte
November; alle Hotels in Lindos, wie an der Küste insgesamt sind längst
geschlossen. Die Händler all der unsäglichen Souvenirs kommen bloß noch an jenen
Vormittagen, an denen Kreuzfahrer zugestellt werden. Sie öffnen ihre Geschäfte
und bieten Imitate griechischer Folklore an. Lauter völlig überflüssige Dinge, die dafür, dem
Ruf des Platzes entsprechend,
grotesk viel kosten.
Wir wandern indes draußen vor dem Dorf an den Klippen entlang in die Richtung,
in der man zum Grabmal des Kleobulos gelangt. Der war vor vielen Hunderten von
Jahren, lange noch bevor die Geschichte mit unserer Zeitrechnung begann, ein
Kapitän, der sich den gesamten Handel, der über die Insel lief, unter den Nagel
gerissen hatte und unendlich reich geworden war. Auf halbem Weg kehrten wir
wieder um; ein wenig echauffiert vom schattenlosen Weg, den diese unglaublich
kräftige Novembersonne durchheizte. Es war Zeit, in das Dorf zurückzukehren,
denn die einzige Taverne, die noch offen war –alle anderen, die im Sommer
täglich mehrere tausend Gäste abspeisen, waren längst für den Winter versiegelt-
wollte nicht allzu spät den Tag beschließen. Wir verliefen uns naturgemäß im
Gässchengewirr, fanden dann doch die Lokalität, stiegen dort hinauf in den
ersten Stock auf eine ziemlich verschattete Veranda, wo wir noch einen halbwegs
sonnenbestrahlten Tisch fanden. Wir bestellten unser Essen, als wir plötzlich
bemerkten, dass eine Wendeltreppe noch weiter hinauf, auf die Dachterrasse des
Lokals führte. Wir nahmen Seil und Pickel zur Hand und zogen uns auf
abenteuerlich schmalen Stufen ganz hinauf. Auch dort gab es noch einige Tische.
Alle unbesetzt, wir waren die einzigen Gäste um diese Zeit, zu der die Amis
längst schon wieder auf ihr Schiff verfrachtet worden waren.
Es war gänzlich umwerfend. Die Sonne bestrahlte uns mit all ihrer Wärme, ohne
uns anzusengen. Der Blick war frei und schweifte über all die Dächer des Ortes;
gleich hinter dem roten Ziegeldach der Kirche das Meer in zweierlei Arten von
Blau; vorne, im Naturhafen der Stadt, das Blau ein wenig heller als hinten auf
offener See, wo es gegen die türkischen Berge in der Ferne satt und dunkel da
lag. Über uns die Festung der Kreuzritterburg, gebaut auf Burgen und Tempel, die
noch zweitausend Jahre früher errichtet worden waren. Der Fels, gebändert in
kühner Krümmung, war den Menschen ein Vorbild gewesen, ihre Gemäuer darauf
trutzig anzuschmiegen. So musste Kleobulos sein Huhn gegessen haben, wie wir es
jetzt taten. Unter dieser Sonne, unter diesem Festungsberg, über den Dächern der
Stadt, den Hafen und das Meer vor sich. Es gab keine Zeit. Es war so, wie es
hier immer gewesen war. In solchen Stunden hört man auf, Nebensächliches ernst
zu nehmen. Es gibt nichts, was zu tun wäre. Es ist alles geschehen. Es ist das
Wunder einer zeitlosen Ewigkeit.
Im Dorf selbst waren jetzt alle Läden längst zu. Auch die Eseltreiber waren mit
ihren Grauen wieder abgezogen. Oben an der Hauptstraße, am Parkplatz für
Hunderte von Fahrzeugen, die sich im Sommer Blech an Blech reiben, stand gerade
noch ein einziges Auto. Da unser Autoschlüssel dazu passte, stiegen wir ein und
gondelten aus der Zeitlosigkeit in die Hektik der Stadt zurück.